Während Israels völkermörderische Offensive in Palästina nun in den neunten Monat geht, finden überall auf der Welt Solidaritätsaktionen und -veranstaltungen mit Palästina statt.
Im Folgenden stellen wir Ihnen die Fragen vor, die wir der Gruppe Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in NahOst gestellt haben und die Antworten, die wir von ihnen erhalten haben.
Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre – ODAK
1) Wer ist die Gruppe Jüdische Stimme für gerechten Frieden in NahOst?
Die Jüdische Stimme für Gerechten Frieden in NahOst ist die deutsche Sektion der “European Jews for a Just Peace”. Die Herkunft der Mitglieder in Deutschland ist sehr vielfältig. Einige Mitglieder haben einen israelischen Hintergrund, einige kommen aus den Vereinigten Staaten, aus Kanada, Großbritannien. Manche Mitglieder sind in Deutschland aufgewachsen, aber die Mitglieder-Zusammenstellung ist sehr internationalistisch. Die Zahl der Mitglieder wächst immer weiter. Zu unseren Hauptzielen gehört es, den Mainstream Diskurs in Deutschland, der – aus politischen Erwägungen und historischem Verpflichtungsgefühl gegenüber Überlebenden des Genozids an europäischen Juden während dem Nazi Regime – hauptsächlich zionistische bzw. dem Staat Israel wohlgesonnene Positionierungen zulässt, um eine kritische Perspektive auf die Politik des israelischen Staates zu ergänzen. Übergeordnetes Ziel ist, die Notwendigkeit eines gerechten Friedens zwischen den Regierungen Israels und Palästinas weiter auf die Tagesordnung zu bringen, und vor allem palästinensische Stimmen aktiv dabei zu unterstützen, ihren legitimen Interessen und Rechten in Deutschland Gehör zu verschaffen, ohne dafür als antisemitisch gebrandmarkt zu werden. Unsere Hauptaufgabe sehen wir darin, unsere Position als Jüd:innen in Deutschland in der Form wirksam einzusetzen, dass die deutsche Bundesregierung ihr ökonomisches Gewicht und ihre Außenpolitik in der EU, der UN und in NahOst im Interesse einer palästinensischen Staatengründung geltend macht, statt ausschließlich die Interessen des israelischen Staates auf Kosten der palästinensischen Bevölkerung zu unterstützen.
2) Angesichts der israelischen Angriffe auf Palästina wurden in der ganzen Welt verschiedene Proteste organisiert. Was haben Sie unternommen?
Deutschlandweit haben wir viele palästinensische Organisationen bei der Organisation von Demos unterstützt, haben Reden auf pro-palästinensischen Demos gehalten. Vom 12-14 April sollte in Deutschland der Palästina-Kongress stattfinden, der sich im Rahmen von Vorträgen, Workshops und Panels kritisch mit der Rolle Deutschlands am Genozid an den Palästinenser:innen befassen sollte. Dieser wurde allerdings mit illegalen Mitteln durch den deutschen Staat verhindert. Die Jüdische Stimme war Mitorganisator dieses Kongresses und hat ihr Konto für Spenden zur Verfügung gestellt, um den Kongress zu organisieren. Dafür wurde der Jüdischen Stimme seitens der Berliner Sparkasse das Konto eingefroren. Derzeit gehen wir gerichtlich dagegen vor, und haben bereits Teilerfolge gegen die Berliner Sparkasse erzielt. Darüber hinaus sind wir Gastgeber für Filmreihen in verschiedenen Berliner Veranstaltungszentren. Dort laden wir zu Filmabenden ein, die sich kritisch mit der Nakbe, der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem historischen Palästina, dem israelischen Besatzungsregime und der israelischen Armee und Gesellschaft befassen. Anschließend gibt es meistens ein Panel und eine Diskussionsrunde mit dem Publikum. Im April hatte eine Gruppe von Aktivist:innen ein Camp vor dem deutschen Bundestag errichtet, im Stile der Hochschul-Camps, die weltweit aufgestellt wurden, um auf die Situation in Palästina aufmerksam zu machen. Dort waren wir als Jüdische Stimme Gastgeber:innen für einen Shabbat und für ein “Freedom Seder” – ein jüdisches Pessachfest, welches Vertreibung und staatliche Gewalt und Repression gegenüber Minderheiten zum zentralen Thema macht. Viele Student:innen in der Jüdischen Stimme sind auch sehr aktiv in Studentenbewegungen und Protest-Camps an deutschen Universitäten. Im Rahmen des Demokratiefestes zu 75 Jahren Bundestag haben einige Mitglieder der JS Regierungsmitglieder wie Habeck, Scholz und Baerbock bezüglich ihrer Haltung und ihrer Politischen Positionierung zur Eskalation in NahOst und zum Genozid an der Palästinensischen Bevölkerung Palästinas befragt. Häufig beteiligen wir uns als jüdische Stimme einzeln oder als gesamte Organisation auch an der Publikation öffentlicher Briefe, um auf gesellschaftliche Missstände wie die stetig steigende Polizeigewalt und politische Repression gegenüber größtenteils nicht-deutschen palästina-solidarischen Aktivisten hinzuweisen und Institutionen wie Polizei, Senat und Bundestag zur Korrektur dieser Missstände aufzufordern.
3) Wir sehen, dass der Westen, insbesondere Deutschland, sehr hart gegen antizionistische Demonstrationen vorgeht. Es ist fast ein Verbrechen, sich mit Palästina zu solidarisieren. Deutschland rühmt sich, ein “freies Land” zu sein. Mit dem israelischen Angriff scheinen diese Behauptungen von “Demokratie” und “Menschenrechten” zusammengebrochen zu sein, was meinen Sie?
Der Zustand der deutschen Demokratie befindet sich tatsächlich in einem äußerst besorgniserregenden Zustand. Mit den Ereignissen des 7.Oktobers wurde in Deutschland die deutsche Staatsräson aktiviert. Dies bedeutet, dass Deutschland Israels Recht auf Selbstverteidigung nahezu bedingungslos unterstützt und sämtliche Maßnahmen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung ideologisch sowie militärisch und politisch weitgehend kritiklos mitträgt. Innenpolitisch umgesetzt bedeutet dies seit 7. Oktober, dass die Perspektive der palästinensischen und arabischen Minderheit in Deutschland seitens der Politik, der Mainstream-Medien, Bildungsinstitutionen und der Polizei dämonisiert, kriminalisiert und systematisch isoliert wird. Dies ist insbesondere in Berlin, wo die größte palästinensische Diaspora europaweit und auch eine große jüdische Bevölkerung lebt, derzeit stark zu beobachten. In Reaktion auf die Ereignisse des 7.Oktobers ist Berlin innerhalb von wenigen Wochen vom liberalsten zum autoritärsten Bundesland Deutschlands gerückt. Dieser Autoritarismus macht sich besonders im Kontext des Palästina Aktivismus und im Umgang mit der palästinensischen, arabischen und muslimischen Bevölkerung bemerkbar, und gegenüber Menschen, die nicht dem west-europäischen Phänotyp entsprechen. Eine ungestörte und nicht von Repressionen betroffene demokratische Teilhabe bleibt aktuell der weiß-deutschen Bevölkerung und bestimmten Zivilisten vorbehalten, welche die Politik des Staates Israel und die Positionierung der deutschen Bundesregierung zum Genozid und der Eskalation in NahOst nicht allzu kritisch hinterfragen bzw. nicht zum Gegenstand ihrer Proteste und Veranstaltungen erklären. Demonstrationen pro-palästinensischer Aktivist:innen werden zwar größtenteils genehmigt. Allerdings ist vor Ort häufig mit einem – verglichen mit anderen Demonstrationen – unverhältnismäßig hohen Polizeiaufgebot zu rechnen, repressiven Maßnahmen gegenüber Aktivist:innen und einer stark auf Eskalation ausgerichteten Polizeitaktik. Es herrscht ein starkes Bemühen seitens der Politik, pro-palästinensischen, zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen wie der BDS Bewegung oder der Palästina-Solidarität Duisburg extremistische Ziele zu unterstellen, um sie darüber für verbotene, da verfassungsfeindliche Organisationen zu erklären. Veranstaltungen von pro-palästinensischen Akteuren werden oftmals durch die Polizei systematisch verhindert, in dem polizeiliche Behörden Veranstalter unter Druck setzen, den Aktivisten die Veranstaltung im Rahmen ihrer Räumlichkeiten zu untersagen. Identitätsstiftende Rufe wie “from the River to the sea”, Symbolika und Kleidung wie die Kufiya werden verboten. Wenn pro-israelische Aktivist:innen diese Symbole aufgreifen und für sich nutzen, wird dies meistens auf Verweis auf den anderen Kontext genehmigt. Durch diese klare Haltung zugunsten zionistischer und pro-israelischer Akteure, die oftmals gegen das deutsche Grundgesetz verstoßen, wird die deutsche Demokratie von Politik und Polizei unterwandert, und eine bestimmte politische Positionierung zur Bedingung für Menschenrechte, zivile Rechte und sogar dem Aufenthaltsrecht in Deutschland sowie der deutschen Staatsangehörigkeit erklärt. Eine Gesellschaft, in der Meinungsfreiheit, Versammlungsrecht und Aufenthaltsrechte nur als Belohnung für bestimmte politische Positionierungen und Verhaltensweisen gewährt werden, kann mitnichten als freiheitlich und demokratisch bezeichnet werden.
4) Was möchten Sie abschließend noch hinzufügen?
Es ist eine bittere Ironie, wenn man deutsche Politiker:innen fast schon betrunken vor Stolz auf die Lehren aus der Deutschlands Geschichte verweisen hört, um die politische und ideologische Unterstützung Deutschlands für den Genozid an der palästinensischen Bevölkerung – unter Berufung auf das israelische Selbstverteidigungsrecht – zu legitimieren. Deutschland hat vermutlich die einzige Chance, der Weltgemeinschaft zu zeigen, dass sie aus ihrer Geschichte wirklich gelernt und die richtigen Lehren gezogen haben, phänomenal in den Sand gesetzt. Gleichzeitig reden sich deutsche Politiker:innen weiterhin gegenüber der eigenen Bevölkerung und auch außenpolitisch ein, dass sie dieser historischen Verantwortung im außen-sowie innenpolitischen Umgang gerade vorbildlich gerecht werden. Die blinden Flecke, die sich in dieser politischen Vorgehensweise offenbaren, verblenden den so wichtigen selbstkritischen Blick für integeres politisches Handeln. Mit blinden Flecken beziehe ich mich auf das Festhalten an israelischer Propaganda um die Offensive auf Gaza zu legitimieren, die schon längst von Zeitungen und unabhängigen Kommissionen als Lüge entlarvt wurden – wie bspw. Vergewaltigungen von israelischen Frauen am 7.Oktober – um die bedingungslose Solidarität mit Israel weiterhin innenpolitisch zu legitimieren. Durch die Weigerung der deutschen Regierung, die sich stets verändernde Faktenlage vor Ort für ihr politisches Handel zu berücksichtigen führt aktuell dazu, dass Deutschland historisch bereits begangene Fehler – Rassismus, Diskriminierung, Faschisierung der Mehrheitsgesellschaft, Abschaffung der Demokratie und Meinungsfreiheit, staatlicher Eingriff in Kunst und Wissenschaft- noch besser vor den Augen einer entgeisterten Weltgemeinschaft wiederholt, statt sich als eine Gesellschaft zu präsentieren, die aus ihrer blutigen und von Genoziden geprägten Geschichte gelernt hat.