AUSNAHMEZUSTAND – DIE GESELLSCHAFT DARF NICHT LÄNGER SCHWEIGEN

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Nuray Ertaş

Ich war in Samsun, als sich das Erdbeben ereignete, ich war wach und saß mit meiner Tochter zusammen. Die Erde begann am frühen Morgen zu beben an. Ich dachte, es sei ein Erdbeben der Stärke 4. Wie ihr wisst, sind wir 50-60 Kilometer von der nordanatolischen Verwerfungslinie entfernt. Ich hielt es für ein Vorläuferbeben und hatte bevor ich das Haus verließ das Bedürfnis, mich zu vergewissern, ob das Erdbeben in unserer Nähe war oder nicht. Während ich mich darüber beschwerte, warum AFAD (Staatlicher Katastrophenschutz der Türkei) und Kandilli (Erdbebenforschungsinstitut) die Erdbebenaufzeichnung nicht teilten, schaute meine Tochter auf Twitter und wir begannen die Lage und das Ausmaß der Katastrophe wahrzunehmen. Das Erdbeben, das sogar Samsun erschütterte, musste sehr gewaltig sein. Das war der Moment, in dem der nationale Albtraum in meiner Welt begann.

Süleyman Soylu erschien gegen 7 Uhr auf dem Bildschirm. Als bekannt gegeben wurde, dass 10 Provinzen direkt betroffen sind, hätte ich erwartet, dass eine Teilmobilisierung ausgerufen wird (oder schon wurde), eine außerordentliche Sitzung mit sämtlichen Bundesämtern und Bundesanstalten, den Ministerien, dem Katastrophenschutz, dem Türkischen Roten Halbmond, der Armee, den Gouverneuren, den Flug- und Schifffahrtsgesellschaften, den Arbeitgeberorganisationen, den Arbeitnehmerorganisationen, den Berufskammern – insbesondere TTB (Türkischer Ärzteverband) und TMMOB (Verband der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern), den zivilen Hilfsorganisationen usw. im ganzen Land abgehalten wird und dass Aktionspläne (die bereits in allen Einrichtungen vorhanden sind) sofort umgesetzt werden. Und deren Umsetzung waren Prozesse, die dem staatlichen Mechanismus nicht allzu schwer hätten fallen dürfen.

Wenn wir ein Land im globalen Süden wären, in dem die Institutionen – wenn auch blind, funktionieren, hätten wir gesehen, dass der Krisenstab bereits vor Tagesanbruch eingerichtet war. Wir hätten gesehen, dass auf der einen Seite Rettungsteams an den Trümmern arbeiteten, während auf der anderen Seite Zelte, Toiletten und ein Feldlazarett aufgebaut werden. Das Erdbeben war sehr stark, das betroffene Gebiet und die Zerstörung ist sehr groß. Natürlich wäre es nicht möglich gewesen, alle Menschen zu erreichen, aber mit öffentlicher Unterstützung und internationaler Solidarität hätte der Schaden der Zerstörung weitaus geringer gehalten werden können, als es jetzt der Fall ist. Ja, dies wäre in einem Land des globalen Südens mit funktionierenden Institutionen geschehen.

Als ich Süleyman Soylu am frühen Morgen zuhörte, war ich mir jedoch sicher, dass nichts von alledem geschehen würde. Was er getan hatte, war genug, um einen Präzedenzfall für das zu schaffen, was er tun würde. Denn wir wussten, dass sie keine institutionelle Struktur im Land übriggelassen haben, die richtig funktionieren konnte. Wir wussten, dass sie die Institutionen als Schemel benutzten und dass sie Leute einstellten, die keine Verdienste hatten und von denen die meisten Absolventen der Imam Hatip Schulen (Berufsfachgymnasien für die Ausbildung zum Imam) oder der Theologie waren – was sie vereinte war die Anhängerschaft zum Staat. 

Außerdem war ihr Verhalten auch bei früheren Katastrophen offensichtlich. Heute sehen und erleben wir, was sie bei den Waldbränden, beim Erdbeben in Elazığ und Malatya, bei der Überschwemmung in Sinop und bei vielen anderen Naturkatastrophen getan haben. Bei welcher Katastrophe zeigten sie, klassisch ausgedrückt, “eine staatliche Ernsthaftigkeit”?!

Ich wünschte, ich würde mich irren. Ich wünschte, wir würden uns irren.

Dieser oberflächliche und inkompetente Geist, der alles was er sieht, als Miete und das Land als zu plündernde Beute betrachtet, würde dieses Erdbeben natürlich nicht anders sehen.

Schon am ersten Tag hieß es, dass “die Rettungsteams jeden Ort erreicht haben” und dass “ein Team von 20 Personen nach Elbistan geschickt wurde”, einer Stadt mit mehr als 140.000 Einwohnern, die dem Erdboden gleichgemacht wurde. Es gab diejenigen, die sagten, dass “die Gebäude, die eingestürzt sind, vor ihrer (AKP-)Herrschaft gebaut wurden” und diejenigen, die sagten, dass “alles unter Kontrolle ist und das Hauptproblem die in den sozialen Medien verbreiteten Falschmeldungen sind”. Ohne rot zu werden, sagte er: “Es gibt Märtyrer und Verwundete in den Gebäuden. Die meisten von ihnen stammen nicht aus den Erdbebengebäuden, sie wurden auf der Flucht vor dem Erdbeben verletzt usw.” Nebati (Finanzminister der Türkei) verwaltet die Wirtschaft des Landes. Es ist ein Scherz, aber nicht lustig.

Der fünfte Tag des Erdbebens ist heute vorbei. Auch gestern haben wir einige wundersame Rettungen erlebt. Es gibt immer noch Trümmergebiete, die noch nicht erreicht worden sind. Es wurde im Laufe der Zeit deutlich, dass keine der Erklärungen, die von AKP-“Zuständigen” am ersten Tag abgegeben wurden, der Wahrheit entsprachen. Diejenigen, die glauben, den Staat zu regieren, behaupteten, dass alles unter der Kontrolle des von einem Theologen geleiteten Katastrophenschutzes koordiniert werden würde und verhinderten (da diese Koordinierung fehlschlug) in den ersten achtundvierzig Stunden fast die Durchführung von Rettungsmaßnahmen. Trotz der Regierung und des Katastrophenschutzes begannen am dritten Tag intensive Reisen in die Region und Rettungsmaßnahmen auf Initiative der Bevölkerung und der NGOs.

Die Ökonomie der Regierung, die auf Immobilien- und Kapitalerträge ausgerichtet ist und die Veruntreuung der für das Erdbeben bereitgestellten Mittel haben unter der einen oder anderen Maske viele Städte zerstört. Die kritischen ersten 48 Stunden nach dem Erdbeben wurden bewusst ignoriert, so dass die Zahl der Todesopfer schnell zunahm. Die Zahl der identifizierten Toten übersteigt 20.000. Die Zahl der Verletzten liegt bei über 80.000. Die einzige Verantwortung für all das liegt bei der Regierung.

Sie haben sich daran gewöhnt, das Land zwanzig Jahre lang mit Augenmaß zu regieren. Sie dachten, sie könnten die Folgen dieser Katastrophe durch Wahrnehmungsmanipulationen bewältigen. Aber die Zerstörung geht weit über das hinaus, was mit der Wahrnehmung bewältigt werden kann. Der Umgang mit Tod, Hunger, Kälte und Verzweiflung geht mit der Wahrnehmung nicht weit genug. Zweihunderttausend Quadratkilometer Land wurden zerstört. Rund 20 Millionen Menschen sind davon betroffen. Nach offiziellen Angaben wurden mehr als 12.000 Gebäude und mehr als 66.000 unabhängige Bereiche zerstört. Die Koordinierung ist noch immer unvollständig, selbst die Hälfte des Rettungsprozesses ist noch nicht abgeschlossen. Es gibt immer noch Gebiete, nicht nur ländliche, sondern sogar in den Zentren liegende, die erfasst sind. Es gibt Tausende von Menschen, die nicht von den Straßen an einen sicheren Ort gebracht wurden. Es gibt Tausende, vielleicht Millionen, die keinen Zugang zu Nahrung, Kleidung oder Gesundheitsdiensten haben. Dank des Einsatzes von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten – vom Autofahrer bis zum Bäcker, vom Bauarbeiter bis zum Bergarbeiter, vom Apotheker bis zum Arzt, vom Ingenieur bis zum technischen Experten, insbesondere von Hilfsorganisationen und sozialistischen Gruppen, werden im Erdbebengebiet Rettungsmaßnahmen durchgeführt und die Koordination sichergestellt.

Die Straßen, die sie gebaut und uns 20 Jahre lang vor die Nase gehalten haben, Flughäfen und Krankenhäuser sind eingestürzt – Menschen sind gestorben. Diejenigen, die nicht unter den Trümmern starben, erfroren nach ihrer Rettung auf den Straßen. Professionelle Hilfsteams und Freiwillige wurden an ihrer Arbeit gehindert. Versperrte Straßen wurden nicht geräumt. Die von der Bevölkerung gesammelten Hilfsgüter wurden nicht ordnungsgemäß an die Bedürftigen geliefert und selbst beim Abtransport der Hilfsgüter aus den Städten, in denen sie gesammelt wurden, wurden willkürliche Hindernisse errichtet. Sie haben es nicht verhindern können. Die Menschen vertrauten weder dem Katastrophenschutz noch dem Roten Halbmond. Mehr Menschen vertrauten der AHBAP (eine NRO) als dem Katastrophenschutz. Die Menschen bildeten entweder ihre eigenen Kassen oder fanden einen Weg, ihre Hilfe über NROs zu verschicken, die sie für zuverlässig hielten.

Die Zahl der Menschen, die noch unter den Trümmern liegen, ist unbekannt. Die Zahl der nicht identifizierten Personen ist unbekannt. Nachrichten über Plünderungen sind weit verbreitet. Viele Geschichten, von der Organmafia bis hin zu denjenigen, die Lastwagen ausgeraubt haben, spiegeln sich in den sozialen Medien wider. Nachrichten über vermeintliche Plünderungen und Vergewaltigungen durch “Ausländer” werden verbreitet und die Reaktion gegen diese wird schnell angeheizt. Berichten zufolge sind die Soldaten und Polizisten, die sie angeblich in das Gebiet geschickt haben, nirgends zu sehen. Es kursieren Gerüchte, dass die AKP versucht, die Voraussetzungen für einen Bürgerkrieg zu schaffen. Diejenigen, die bei dem Erdbeben starben, sind gestorben. Diejenigen, nicht ums Leben kamen, müssen sich mit Taschendieben herumschlagen – als ob Kälte, Hunger und Krankheit nicht schon genug wären.

Trotzdem lässt die Solidarität nicht nach. Sie sind sehr wütend. Sie haben vom ersten Tag an ihre Drohsprache benutzt und sie benutzen sie jeden Tag ein bisschen lauter. Einerseits werden Vereinigungen wie AHBAP ins Visier genommen, andererseits wird versucht, sowohl die Medien als auch ihre Nutzer zu unterdrücken, indem eine Untersuchung nach der anderen eingeleitet und Verhaftungen vorgenommen werden.

Während die Regierung und ihre heuchlerischen Medien weiterhin Drohungen und Beleidigungen aussprechen, kämpft ein großer Teil der Gesellschaft weiter, organisiert Hilfsaktionen und versucht, sich an den Rettungsmaßnahmen zu beteiligen. Diese Bemühungen werden von den Oppositionsgruppen unternommen, die die AKP bei jeder Gelegenheit verunglimpft. Die Menschen versuchen, die Wunden mit ihren mageren Einkommen zu heilen. Sie verschicken ein Paket nach dem anderen, einen Lastwagen nach dem anderen mit Hilfsgütern zu den Bedürftigen, soweit sie den Katastrophenschutz passieren können. Häuser werden geteilt – Zimmer werden gemeinsam genutzt. Dabei sind die Sozialisten führend in diesen Bemühungen. 

Das muss an dieser Stelle gesagt werden. Ich fragte mich: “Was machen die Stiftungen, die seit Jahren die Ressourcen des Landes als Stipendien nutzen, die mit der offenen Unterstützung der AKP gewachsen sind und von denen jede zu einem Konzern geworden ist?” Diese Zecken haben Hunderte von Koranschulen, Schulen und Wohnheimen. Sie haben Suppenküchen, die Tausende oder sogar Zehntausende von Menschen ernähren können. Sie haben Konzerne. Aber fast keiner von ihnen wurde für die Erdbebenopfer geöffnet (ich sage “fast”, weil ich keine von ihnen gesehen habe, aber vielleicht sind ein oder zwei von ihnen vor Ort, um zu helfen). Sie beten viel und bitten die armen Menschen um Spenden. Einige Gemeinden (Kayseri) bringen mobile Gebetsräume in das Erdbebengebiet. Deren Beauftragte, die wahrscheinlich durch Vetternwirtschaft eingestellt wurden, rufen an den Einsatzorten bei der Rettung von Menschen “Allahu Ekber” (“Gott ist groß”). Die Menschen finden keine Imame, die die religiösen Rituale für die Beerdigung ihrer Toten durchführen. Sie finden keine Leichentücher, um die Toten einzuwickeln. Doch keiner derjenigen, die am 15. Juli mobilisiert wurden, um den Gebetsruf aus mehr als hunderttausend Moscheen gleichzeitig zu rezitieren, ist im Katastrophengebiet zu finden. 

Private Krankenhäuser, von denen die meisten Emine Erdoğan und dem Gesundheitsminister Fahrettin Koca gehören, haben ihre Krankenhäuser in der Region geschlossen und keine Logistik für das Erdbebengebiet bereitgestellt. Freiwillige Apotheker des Apothekerverbandes sind im Erdbebengebiet. Aber die Pharmakonzerne, die große Profite durch den Verkauf von gefälschten Medikamenten erlangen, sind nirgends zu sehen.

Heute ist der sechste Tag. Der Schmerz ist groß. Das Weinen wird von Zorn und Rebellion begleitet. Am ersten Tag sagten sie: “Wir sind als Volksallianz auf dem Platz” – Das war eine Lüge. Am dritten Tag sagten sie: “Dies ist eine überpolitische Situation, wir müssen diese Zerstörung gemeinsam überwinden” – Sie haben gelogen. Sie sagten “Wir werden Geld geben”. Sie sagten “Wir haben eure Steuerschulden gestundet”. In der Stadt, in der es keine Häuser mehr gibt, hieß es sogar: “Wir haben die Zahlung der Rechnungen aufgeschoben”. Es hat nicht geklappt. Sie merkten, dass niemand mehr etwas davon hören wollte, also griffen sie auf die Sprache der Drohungen zurück. Sie sagen: “Wir führen ein Buch. Wer seid Ihr?!”, fragen sie. Sie sagen: “Wir werden weder, dass geplündert wird, noch dass dieser Schmerz in politischen Raubbau verwandeln wird, zulassen.”

Der Schmerz der Zerstörung, der Hilflosigkeit und des Todes ist offensichtlich. Der Ärger ist sowohl im Erdbebengebiet als auch im ganzen Land sehr groß.

Genau aus diesem Grund wurde der Notstand ausgerufen, angeblich “um sicherzustellen, dass die Such- und Rettungsmaßnahmen und die anschließenden Arbeiten schnell durchgeführt werden können”. Dass ich nicht lache! Was sie mit der “raschen Durchführung von Such- und Rettungsmaßnahmen” meinen, ist die schnellstmögliche Einebnung des Gebiets ohne Rücksicht auf Tote und Lebende. Und was sie mit “Folgemaßnahmen” meinen, ist die sofortige Übergabe der Abrissgebiete an Immobilienkonzerne. Sie haben bereits begonnen zu planen, welchen Bereich sie an wen vergeben und welche Arbeit durch welches Unternehmen verrichtet wird. Sie haben ihre Verhandlungen bereits begonnen und sogar abgeschlossen. In ihren Augen ist keine Spur von Schmerz oder Traurigkeit zu erkennen. Wenn sie sich nicht schämen würden, würden sie sich die Hände reiben und für Dankbarkeit beten (vielleicht haben sie das bereits getan). Zu diesem Zweck wollen sie den Ärger unhörbar und unsichtbar machen. Sie wollen die Öffentlichkeit vom Katastrophengebiet fernhalten, die Dramen unsichtbar sowie unlesbar machen und mögliche Reaktionen von vornherein verhindern. Sie wollen die Verbindung des Katastrophengebiets mit anderen Teilen des Landes kappen. Anschließend wollen sie den Ausnahmezustand für Wahlen nutzen. Sie scheinen wieder alle Hebel in Bewegung gesetzt zu haben.

Dieses Spiel darf nicht mehr stattfinden. Die Bevölkerung darf nicht schweigen und muss den Ausnahmezustand, dieses Spiel der Zustände, beenden. Dieser Prozess ist der tragischste und schärfste Prozess, dem diese Regierung ausgesetzt war. Von hier aus muss der Widerstand organisiert werden, jeder muss Verantwortung übernehmen, indem er kleine Berechnungen beiseite liegen lässt, damit die Menschen nicht immer wieder diesem Leid ausgesetzt sind – damit die Zecken nicht mehr das Blut der Gesellschaft saugen – damit ein menschenwürdiges Leben in einer bewohnbaren Umwelt realisiert werden kann.

CEVAP VER

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